30) Bereit sein, Unrecht zu haben
Willst du glücklich sein, oder Recht haben?
Die meisten Menschen wollen lieber Recht haben
als glücklich zu sein.
Warum?
Weil ihnen einmal Unrecht getan wurde, weil jemand einmal ihre Grenzen überschritten hatte, UND sie hatten dabei gefühlt haben, wie sie die Würde verloren.
Anklagen
Die Würde zu verlieren, das ist eine der schlimmsten Emotionen, die wir haben können. Wir bleiben lebenslang mit einem Gefühl, unwürdig zu sein.
Das unterminiert unser Selbstbewusstsein. Wir trauen uns nicht, für uns verantwortunsvoll einzustehen und lassen zu, dass auch andere unsere Grenzen überschreiten.
So werden Opfer und Rebellen geboren.
Wie geschieht das? Es ist nicht so, dass jemand uns unsere Würde nehmen kann.
In dem Moment, in dem man uns Unrecht getan hat, haben wir gespürt, dass der andere uns nicht respektiert und in einer psychologischer Reaktion ähnlich wie dem Stockhol Syndrom haben wir diese Einstellung übernommen internalisiert.
Wir wurden zu Selbstankläger, um uns nicht unwürdig zu fühlen.
Damit haben wir für uns ein Opfer Skript geschrieben, das lebenslang uns einschränken kann.
Es sei denn wir gehen zurück in diese ursprüngliche Situation und bringen dort Verständnis für alle Beteiligten. So kann Vergebung geschehen.
Sonst leben wir mit dem Glaubenssatz, den wir damals in Stein gemeisselt haben: Wir haben es nicht besser verdient, als schlecht behandelt zu werden.
Diese selbsterfüllende Prophezeihung kann uns manches Unglück und eine Kette von sich ähnelnden Stress-Situationen am neuen Arbeitsplatz oder in der nächsten Beziehung bringen.
Deswegen werden wir später nicht verantwortungsvoll (!) für unsere Rechte eintreten, sonder wir werden anklagend Recht haben wollen - ob als Opfer oder als Rebell.
Diese Anklagen werden sich nicht nur auf Menschen beschränken, mit denen wir etwas zu tun haben. Um den inneren Druck zu entschärfen, werden wir alles anklagen, was sich dafür anbietet: Menschen wie Meinungen.
Die Radikalisierung der Diskussionen in den Medien und die me too Bewegungen sind Folgen von davon.
Wie können wir das ändern?
Umentscheiden
Zunächst durch Verstehen: Niemand kann uns unsere Würde nehmen, ausser wir selbst.
Wir könnten uns umentscheiden: Anstelle uns unwürdig zu fühlen und uns weiteren Angriffen auszusetzen oder uns davor angsterfüllt zu verstecken, könnten wir uns würdig fühlen und angemessen auf Gefahren- und andere Angriffssituatinen reagieren.
Das kann zum Beispiel auch durch Vermeidung oder dadurch geschehen, dass wir uns vestecken. Wir würden unsere Würde dadurch nicht verlieren, dass wir für uns sorgen. Im Gegenteil!
Für jegliche Entscheidung, auch für eine Umentscheidung, brauchen wir Entscheidungsfreiheit.
Wann haben wir die Entscheidungsfreiheit, auch wenn uns Unrecht getan wird, in unserer Würde zu bleiben? An dieser Frage zeigt sich, dass Persönlichkeitsentwicklung und Vergangenheitsbewältigung kein Luxus weder Hobby sind: Auf diesem Weg ruhen wir immer mehr in uns, egal was um ums passiert.
Wenn wir dieser Einsicht Raum lassen, dass uns niemand die Würde weg nehmen kann, sondern nur wir es sind, die die Würde innerlich verlassen, kann schon etwas passieren. Es kann sein, dass wir spüren, wie sich etwas ändert: eine Erleichterung - der Schmerz ist noch da, aber wir fühlen uns besser und manchmal sogar stärker.
Zurück bekommene Würde gibt Kraft, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen.
Manchmal bleibt noch ein Schmerz wahrnehmbar. Das ist sehr individuell:
- Es kann ein Kindestrotz sein Warum geht / ging nicht nach meinem Wille / Erwartungen?
Manchmal hilft hier ein Beratungsgepräch, um den Blick auf das Leben zu erweitern. Wenn wir aus der Vogelperspektive auf das Leben schauen, können wir leichter die Erwartung aufgeben, dass alles nach unserem Willen geschehen soll.
Wenn der Schmerz jedoch bleibt, gibt es noch ein weiteres Erlebnis, welches das sich unwürdig fühlen innerlich nährt. Ich habe mit der Methode des metaphorischen Heilens gute Erfahrungen gemacht, wie auch solche Erlelbnsise emotional umgeschrieben werden können, so dass Vergebung und Selbstvergebung geschehen können.
- Oder es kann auch der Schmerz sein, dass uns eine geliebte Person Unrecht getan hat.
Was hier hilft, ist den Blick auf die Liebe zu lenken, die wir für diese Person empfinden. Es tut weh, gerade weil wir sie/ihn lieben. Wenn wir uns der Liebe bewusst werden, beginnt es weniger weh zu tun.
Manchmal wollen wir nicht akzeptieren, dass jemand, den wir lieben, sich so verhalten hat und oft auch noch so verhält. Auch hier hilft verstehen: Auch diese Person hat eine Geschichte, die ihn/sie so werden liess UND dass es gilt, sie mit ihrer Geschichte zu achten.
Wenn wir sie retten oder gar reparieren, heilen wollten, wäre das ein Zeichen von fehlender Achtung und Respekt. Jeder hat seine Bürde und inneren Verwundungen, hat aber auch die Kraft, damit umzugehen. Wir wollen anderen ihre Würde lassen, wie sie mit ihrer Last im Leben leben.
Recht haben wollen ist eine Schwingung
Recht haben wollen, so wie ich es hier meine, ist immer eine Schwingung. Wenn wir achtsam sind, können wir eine Verhärtung in uns finden, wenn wir im recht haben wollen - Modus gehen. Wenn wir glauben, dass wir Recht haben, gibt es immer entweder ein Gegenüber der anders denkt oder wir wollen uns selbst überzeugen, dass wir Recht haben. Im letztern Fall wollen wir ein Zweifel in uns zum Schweigen bringen.
Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte - Hans Georg Gadamer
Wenn wir glauben, dass wir Recht haben und die anderen ins Unrecht setzen, könnten wir vielleicht zu viel in der Welt des logischen Denkens verharren. Denken ist jedoch immer ein Weiterdenken (Gadamer).
Wenn wir in einer Konfliktsituation glauben, dass wir Recht haben und die anderen Unrecht haben, dann bietet sich eine Chance: Wir können uns fragen:
Warum wollen wir, dass die anderen so denken wie wir? Was wäre wenn wir Unrecht hätten, oder wenn wir die falsche Frage stellen würden?
Es mag sein, dass unsere Antwort stimmt, aber unsere Frage stimmt nicht, sie mag zu eng sein, oder nicht geeignet in der Situation, eine Änderung herbeizuführen. Wo willst du Recht haben?
Ich lade dich ein, ein Gedankenexperiment zu machen: nur als Experiment, nehme mal an, dass du Unrecht hast. Und schau dann auf die Situation zu, vom Standpunkt her, dass du Unrecht hast. Halte das aus, vielleicht besucht dich dann eine neue Idee oder ein neues Gefühl, welche bis jetzt nicht kommen konnten, da du die Tür verschlossen hielst.
Alternativ könntest du mit dem Herzen denken, mit den Ohren des Herzens dem anderen zu hören und mit den Augen des Herzens hinsehen. Das führt zum Verständnis.
Die Liebe beginnt, wo die strenge Gerechtigkeit aufhört - Johannes XIII
Recht haben wollen vollzieht sich im Kopf. Wenn wir uns dessen nicht bewusst werden, riskieren wir uns fanatisch für oder gegen etwas einzusetzen. Das ist destruktiv.
Recht empfinden im Herzen hat eine völlig andere Qualität, eine andere Schwingung. Daraus setzen wir uns für andere ein, und wir sollten uns genaus so auch für uns selber einsetzen.
Wenn wir achtsam hinschauen, entdecken wir oft, dass wir emotional re-agieren, wenn unsere Meinung oder unser Standpunkt nicht akzeptiert werden. Wir begeben uns in ein Kampf um recht zu haben oder ziehen uns zurück. In beiden Fällen sind wir aus unserer Mitte ent-rückt: Im ersten Fall fühlen wir uns künstlich stark, im zweiten künstlich schwach. In solchen Situationen ist unser Schatten am Werk und wir sind von Aggression getrieben, ob aktiv (wir wollen gewinnen und den anderen überzeugen) oder passiv (Rückzug).
Verletzt sein fühlt sich an wie Schwäche, Opfer. Diese Schwingung kommt aus Bedürftigkeit und führt - oder verführt - uns zu einer 'moving away' oder 'weg von' Bewegung. Dadurch reagieren wir nur auf vergangene Situationene und übernehnmen nicht die Verantwortung für den Augenblick.
Der Kapziner Mönch und Psychotherapeuten Guido Kreppold spricht in diesem Kontext von Selbstverleugnung, wobei der deutlich macht, dass es sich nicht darum handelt, sich zu entwerten sondern sich selbst anzuschauen. Ich verstehe seine Worte als Einladung, das Ego zu verleugnen um dem Selbst Raum zur Entfaltung zu geben.
denn meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen. - 2 Korinther